2. November 2013

rezi/kritik: "alphabet - angst oder liebe" der neue film von erwin wagenhofer. (kinostart in deutschland: 31.10.2013)



keine frage, das ist ein guter film, ein guter dokumentarfilm.
der kameramann versteht sein handwerk und langweilt uns nicht mit endlosen frontalbildern, sondern findet auch immer wieder ungewöhnliche blickwinkel, die zum teil die personen auch in ihre umgebung einbinden.

"alphabet - angst oder liebe", nach "we feed the world" und "let's make money" der neue film von erwin wagenhofer. (kinostart in deutschland: 31.10.2013)

ich finde diesen film schlichtweg nicht niedrigschwellig genug. der/die allgemeingebildete interessierte wird sich langweilen, so wie die zwei lehrerinnen, die am kinoausgang meinten, dass der film eine halbe stunde kürzer sein könnte. und das liegt einfach daran, dass in dem film nicht vom autor kommentiert wird.

und so wird bereits eine endlose china-sequenz am anfang zum rätsel. soll das gut sein, dieser drill da? und wenn nein, warum liegen die bei PISA immer vorn? dieser komische "mr. pisa" - andreas schleicher. der merkt ja gar nichts mehr. er findet den drill zwar gar nicht gut, aber die kinder bekommen dafür alle mögliche unterstützung. na danke!


und was hat dieser nervös zuckende klugscheisser thomas sattelberger da verloren? ewiger personalchef der telekom. kackt einen guten satz nach dem anderen hinter seinem schreibtisch vor, aber ich glaube dem kein wort. was will der mir von bildung erzählen? der ist doch teil dieses schrägen systems!

kann der/die geneigte kinobesucher_in diesen widerspruch erkennen? hat der regisseur dies bewusst so eingesetzt?


ein glücksfall sind arno und andré stern. die leben was sie sagen. die schicken ihre kinder nicht auf die schule. und das ist das einzig richtige. weil die schule die kinder zu autoritätsabhängigen maschinen macht, weil das bildunsgsystem ein verblödungssystem ist, weil der konkurrenzdruck, die kinder krank macht
und ihnen den spass am lernen und ihre freizeit nimmt.

klar musste arno stern vor den nazis fliehen, aber seinen "malort" hat er in frankreich entwickelt und gelebt. seinen sohn hätte er in deutschland ja auch jeden tag in die schule quälen müssen. und der hätte dann keine zeit gehabt, seinen hobbys und interessen nachzugehen.

ich beneide ihn so sehr! auch ich habe in meinen erwachsenenleben fast nur sachen gemacht, die mir spass gemacht haben. aber alles was ich dazu brauchte, habe ich mir selbst angeeignet. wenn ich von den kulturtechniken absehe - die ich auch ohne schule gelernt hätte - habe ich in meinem schulleben nichts gelernt, was ich je gebrauchen konnte. im gegenteil: ich musste mir diesen ganzen antriebs-drill und nicht-selber-denken-drill wieder abgewöhnen. oh, was für eine zeitverschwendung meiner kindheit!

pablo pineda ferrer ist lehrer, schauspieler und der erste europäer mit down-syndrom, der einen hochschulabschluss gemacht hat. toll! aber warum hat er mit solch freude seinen psychologie-ordner nach dem studium zerfetzt und warum finden wir ihn gegen ende des films in einem fussballstadion wieder. profifussball, momentan ein sinnbild, was diese gesellschaft aus dem spass macht: gewinn, geld, gewalt.

das bleibt unkommentiert. wie steht denn der regisseur dazu? was will er hier seinem publikum vermitteln?

gerald hüther geht mir mit seinem gerede manchmal auf die nerven. nein, er sagt schon lauter wahre dinge. und er sagt sie auch relativ radikal. und das hat auch gar nichts mit dem film zu tun, dass ich finde, dass er sich in einer endlosschleife gefangen hat. er kommt mit seinen sehr guten theoretischen ansätzen aus der interpretation der hirnforschung nicht aus dem hamsterrad der praxis 'raus. das hat was mit den texten, die ich von ihm gelesen habe zu tun. mit seinen vorträgen und interviews. im film kommt er viel zu blass 'rüber. und bilinguale KiTas als erste orte zu bezeichnen, wo kinder etwas lernen, was sie nicht brauchen, ist sogar noch falsch! denn hier in hamburg brauchen die kinder englisch. und es wird ja auch nicht gelernt im sinne von schule!
trotzdem schade, dass hier ein alter mann mit seinem hund durch die landschaft latscht und etwas freudlos aus dem zusammenhang gerissene wahrheiten erzählt.

da ändert es auch nichts, dass wagenhofer seine worte filmisch in den kontext anderer lern-, bzw. lebenserfahrungen zu setzen versucht.

mein fazit insgesamt: wer sich nicht im kontext der reformpädagogik bewegt, oder damit regelmässig beschäftigt, wird schwierigkeiten haben, den film zu "verstehen". und was ich noch mehr bedauere, das wenigste publikum wird aus diesem film etwas mitnehmen können, geschweige denn, von den guten gedanken, etwas in der praxis umsetzen.
bei "we feed the world" konnte ich meinen fleischkonsum überdenken, bei "let`s make money" meine einstellung zu börsen und zinsen, aber was mache ich nur mit "alphabet"?

mein filmtipp: reinhard kahl "lob des fehlers"

ps.: hätte ich doch fast sir ken robinson vergessen. der kommt laufend im o-ton zu wort und plädiert für einen paradigmenwechsel im bildungssystem. wahrscheinlich wurde er deswegen auch von der fortschrittlichen königin elisabeth II. zum ritter geschlagen (achtung: ironie!). eyh, was soll ich davon halten? der gute ist lt. wikipedia "ein international geachteter berater in der gesellschaftsentwicklung (innovation und humanressourcen)"

sehr erfrischend und authentisch, die hamburger gymnasiastin yakamoz karakurt (http://www.zeit.de/2011/34/P-Schule). ich würde sie gern in 20 jahren nochmal hören, ob sie sich ihre kritik erhalten konnte, oder ob sie die in einem stressigen anerkannten beruf vergessen hat. und was sie mit ihren kindern macht!?







 


toberg für WideBlick






 



_____________________________________________


aus dem presseheft:


Erwin Wagenhofer begreift das Thema „Bildung”
sehr viel umfassender und radikaler als dies
üblicherweise geschieht. Fast alle Bildungsdiskussionen
sind darauf beschränkt, in einem
von Konkurrenzdenken geprägten Umfeld jene
Schulform zu propagieren, in der die Schüler
die beste Performance erbringen. Wagenhofer
hingegen begibt sich auf die Suche nach den
Denkstrukturen, die dahinter stecken. Was wir
lernen prägt unseren Wissensvorrat, aber wie
wir lernen prägt unser Denken.


Nach We feed the World und Let’s make Money
ist Alphabet der abschließende Teil einer
Trilogie, in dem die Themen der beiden vorherigen
Filme nochmals aufgegriffen und wie in
einem Brennglas gebündelt werden. Alphabet
ist Erwin Wagenhofers bisher radikalster Film.

Längst war der Welt klar, dass da eine Krise größeren
Ausmaßes auf sie zu rollt, eine Krise, die nicht
vom Himmel gefallen ist, sondern von Menschen in
die Welt gesetzt wurde, wie eben die meisten Krisen,
die uns heimsuchen.


Wer in London, einem der größten und bedeutendsten
Finanzplätze der Welt, einen Job haben will, der
muss entsprechende Zeugnisse vorweisen können.
Nur die Besten der Besten bekommen Zutritt zu
den heiligen Hallen des Kapitals, wo zwar kein Cent
vorhanden ist, aber viele Billionen im Sekundentakt
durchgeschleust und manipuliert werden.
Wer hier arbeitet, muss einiges mitbringen, einen
Universitätsabschluss sowieso, blitzschnelle Auffassungsgabe,
Fähigkeiten im ultraschnellen Kombinieren
und Herstellen von Zusammenhängen,
Risikobereitschaft und auch ein enormes Ausdauerund
Beharrungsvermögen. Denn die Routinen wiederholen
sich Stunde um Stunde, Tag für Tag, Jahr
für Jahr. Ausgetauscht werden lediglich die Produkte
und ihre globalen Zusammenhänge. Verdienen
kann man an allem, wie sich herausgestellt hat. Die
Produkte will man nur so lange, solange sie Profit
abwerfen, oft nur Millisekunden. Eigentlich ein Widerspruch
zum wirklichen Leben, in dem Dinge angeschafft
werden, damit sie lange halten und Freude
machen. Aber um Werte geht es auf den großen Finanzplätzen
der Welt längst nicht mehr, es geht um
Profite und dazu braucht man (junge) Menschen, die
an den besten Universitäten dieser Welt ausgebildet
wurden.


Als ich in den Frühsommertagen 2008 in Jersey und
London die vielen gut gekleideten und bestens ausgebildeten
Leute beobachten durfte, dachte ich mir,
hier stimmt etwas nicht, denn hier laufen in sehr
Nach zwei Filmen – über den Umgang mit Nahrung
We feed the World und Geld Let’s make Money – stellte
ich mir die Frage, warum kommt es überhaupt zu
solchen Fehlentwicklungen und Verwerfungen?


• Warum geraten Kulturen und Gesellschaften, die
sich als hoch entwickelt sehen, in den Strudel von
gewaltigen Krisen?
• Warum sind wir so unglücklich, obwohl wir scheinbar
alles haben?
• Warum leben wir oder viele von uns in ständiger
Angst/Existenzangst, obwohl unsere Volkswirtschaften
einen unfassbaren Reichtum hergestellt
haben?
• Warum funktioniert die Verteilung dieses Reichtums
so schlecht?
• Warum ziehen wir das System der geschlossenen
Angstgesellschaft einer offenen, freien Gesellschaft
vor?
• Warum leben wir in einer Erwerbsgesellschaft
und nicht in einer Tätigkeitsgesellschaft?


Auf all diese Fragen würde ich gerne versuchen, mit
dem vorliegenden Filmprojekt eine mögliche Antwort
zu finden, und diese Antwort – darin sind sich
Experten und Denker, Wissenschaftler wie Laien
einig – lautet:
Es liegt daran, wie wir auf dieses Leben vorbereitet
werden, wie wir erzogen, sozialisiert und letztlich
gebildet werden, mit anderen Worten, welches ”Alphabet”
wir übergestülpt bekommen, mit dem wir
dann ausgerüstet auf und in die Welt losgehen.


Anfang Sommer 2008 fanden die letzten Dreharbeiten
zu Let’s make Money statt und zwar auf der Kanalinsel
Jersey und in der City of London in Großbritannien.
regiestatement

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